Trauerkultur und Corona

Gebannt sitze ich vorm Fernseher und schaue Nachrichten. Mich beeindrucken Bilder aus Spanien: nach dem König spricht eine Intensiv-Schwester auf einer Gedenkfeier für die an Corvid-19 gestorbenen Menschen. Bewegende Worte  –  berührende Bilder: Kerzen werden entzündet, Musik erklingt. Ich hab einen Kloß im Hals. Und eine Frage im Kopf: warum gibt es bei uns so etwas nicht? Eine öffentliche Gedenkstunde mit Bundespräsident und Bischöfen, Angehörigen und Pflegekräften. Wären das nicht mal Fernsehbilder, die dem ganzen Land gut täten? Stattdessen immer mehr TV-Bilder und Reportagen über Maskengegner und Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und Nazis. Und inzwischen reagiere  ich allergisch auf den Satz wir haben „nur“ 9288 Tote (mit Stand vom 28.08.2020). Muss ein Land erst über 20000 Tote haben, die so eine Gedenkstunde rechtfertigen? Was für ein Zynismus! Natürlich bin ich auch froh und dankbar, dass wir bis jetzt so glimpflich durch die Corona-Pandemie gekommen sind. Durch die Bilder aus Italien, Spanien, new York und london weiß ich: es hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Und dennoch stünde unserem Land ein bisschen nationale Trauerkultur gut zu Gesicht! Was mögen Menschen empfinden, die einen geliebten Menschen verloren haben? Der oder die vielleicht einsam gestorben ist, ohne Besuch in den letzen Stunden…Minuten…? Wenn sie immer wieder mit der öffentlichen Rede von den „nur“ rund 9000 Toten konfrontiert sind? Und ich spüre deutlich, wie sehr Trauer und Tod noch tabuisiert sind in unserem Land. Und ich tue etwas, dass ich noch nie in meinem Leben getan habe: ich schreibe an den Bundespräsidenten. Bzw. ans Bundespräsidialamt. Ich finde, Herr Steinmeier sollte sich mit den Kirchen, Moscheen, Synagogen unseres Landes zusammentun und im Berliner Dom oder im Schloss Bellevue (oder wo auch immer) eine nationale Gedenkfeier mit entsprechender Medienpräsenz gestalten. Damit Trauer und Schmerz, Dankbarkeit und Arbeitseinsatz gegen das Virus gewürdigt werden. Mal eine halbe Stunde innehalten und national der Trauer Raum geben! Das empfände ich als große Chance, der ganzen bunten Debatte um Fußballspiele ohne Zuschauer und Maskenpflicht, um Freiheitsrechte und Tanzverbote mal noch eine andere Farbe hinzu zu fügen. Das hab ich ihm geschrieben. Natürlich weiß ich auch, dass nicht er die Mails liest, sondern sein Stab. aber ich bin gespannt. Ein paar Wochen später kommt die Antwort, aus der ich zitieren: „……Ihr Vorschlag für eine öffentliche Veranstaltung zum Gedenken an die Verstorben der Corvid-19 Pandemie und an alle, die bei der Versorgung und der Bewältigung der gegenwärtigen Cororna-Krise große Risiken auf sich nehmen, wurde daher hier sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen. Der Bundespräsident wird dies gern in seine weiteren Überlegungen mit einfließen lassen….“

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