Predigt 2.3: Geh aus mein Herz (EG 503) ohne singen!

Choralvariation 1

Nicht wahr,
liebe Gemeinde,
das ist richtig hart: bei diesem Choral, bei diesem kirchlichen Gassenhauer nicht mitsingen zu können/dürfen! Vielen Menschen sind Kirchenlieder heutzutage völlig fremd! Das merke ich bei Konfirmationen oder Trauungen: proppevolle Kirche, aber kaum eine/r singt mit. Aber bei „Geh aus mein Herz“ — da singen ganz viele mit!! Eines der wenigen Kirchenlieder, die Volkslied-Charakter gewonnen haben im Laufe der Zeit.
Selbst mir, die ich überhaupt nicht singen kann und völlig unmusikalisch bin, tut das weh.
Fast automatsch fallen mir hinter der Maske die Worte ein (jedenfalls viele) und ich summe mit.
Es kostet richtig Überwindung, nicht einzustimmen in dieses vertraute Lied!
Doch dieser Schmerz, der passt eigentlich ganz gut !!
Aber dazu muss ich einiges über Paul Gerhard und seine Zeit wissen.
Was so als fröhlicher Sommer – Sonnen – Natur- Gesang daher kommt, hat in seiner Entstehungsgeschichte durchaus eine dunkle Seite!

Paul Gerhard hat dieses Lied für seine Frau geschrieben, als eines der 5 gemeinsamen Kinder verstorben war.
Eine hohe Kindersterblichkeit im 17. Jahrhundert:
völlig normal!
Doch dazu verwüstet nicht nur der 30jährige Krieg das Land, sondern auch die Pest!!
Ein Bruder Paul Gerhards fällt ihr zum Opfer und nun die schier unstillbare Trauer seiner Frau.

Sie hat sich wohl eingesponnen in ihren Schmerz und Paul Gerhard möchte sie da rausholen.
Von allein scheint seine Frau den Weg aus der Trauer nicht zu finden,
er will Anstoß geben: „Geh aus!“…….. „suche!“ ……… „schau an!“……“sieh!“…..
“Geh aus dir raus“ immer wieder dieser Appell: 15 Strophen lang! Ob das was genützt hat??

Durch die Arbeit in Trauergruppen und beim Trauer-Cafè, weiß ich, wie schwer dieser Weg aus der Trauer heraus ist. Und jede und jeder muss so seinen/ihren so ganz ureigenen Weg finden und dann gehen. Appelle von außen nützen herzlich wenig.

Paul Gerhardt hat offensichtlich seinen Weg gefunden.
Er schaut in die Natur, die für ihn Schöpfung Gottes ist und in ihr findet er Trost. Vielleicht könnte es seiner Frau ja ähnlich gehen?!

Deshalb blättert Paul Gerhard in seinem Lied „Geh aus mein Herz“ wie in einem Buch: er blättert ein buntes Bilderbuch des Sommers auf:
Pflanzen und Tiere, Himmel und Erde und der Mensch
Bunt aufgemalt!
Narzissen und Tulpen, Berg und Tal, Lerche und Taube, Glucke und Reh, das Lustgeschrei der Schafe und ihrer Hirten, die Bienen und der Weinstock, der Weizen und laubreiche Bäume – die ganze Schöpfung:
ein sinnenfrohes und sinnliches Bilderbuch Gottes!
Es lädt ein, selbst Anteil zu haben an dieser Sinnlichkeit.

Rausgehen in die Natur kann gut helfen in Trauerzeiten!
In Lohbrügge bieten die Kirchengemeinden einmal im Monat einen Sonntags-Trauerspaziergang durch die Boberger Dünen an!
Geh raus mein Herz – sagt Paul Gerhardt in diese Situation hinein.
Bleib nicht in deinem Kummer verschlossen!
Geh aus dir raus mein Herz, richte dich nicht ein in deiner Bitterkeit.
Suche Freude!
Sie kommt nicht von allein!
2. Orgelvariation

Geh aus dir raus, mach dein Herz auf, (Handbewegung: wie einen Fensterladen) mach dich auf, finde Freude und wieder den Weg zu dir!
Lass dir helfen von der „lieben Sommerzeit“, von Wärmeschauern durch die Sonne, von lauen Lüften und blauem Himmel, von den Zeichen, wie lebendig diese Welt ist, und du selbst in ihr!
„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ heißt es im kleinen Prinzen, das weiß auch Paul Gerhardt:
Sich an den Schönheiten dieser Welt zu erfreuen, weckt neue Lebensgeister.
Das erfahren nicht nur Trauernde, sondern alle, die jetzt in Urlaubs- und Sommerzeit, sich aufmachen in die Natur.
Wie hart es ist, eingesperrt zu sein in die eigenen 4 Wände, haben wir in der letzten Zeit erlebt.
Für Andere ist es ihre Dauerlebenssituation:
nicht mehr raus können aus der Wohnung, aus dem Pflegebett …schon lange nicht mehr…eingesponnen sein in die eigenen Ängste….in Schmerzen, Sorgen und Enttäuschungen….

Wenn man das weiß, singt man dieses Lied anders. Die Corona-Erfahrungen der letzten Wochen können helfen, das beliebte Lied ganz neu zu verstehen: nämlich ohne den Schmerz auszublenden!
Sondern ihn mit hinein zu nehmen in unsere Weltsicht und dadurch um so intensiver zu erleben: die Gärten…die Bäume…..die Sträucher, das Grün,…… den Gesang der Vögeln…die Bienen, den Weinstock und den Weizen!

Können wir das noch?: so unbelastet und unbeschwert die Natur und unsere Mitwelt sehen?
Ist es nicht richtig gut, dass wir nicht mitsingen können, weil wir wissen, wie belastet die Umwelt ist und wie sehr wir sie belasten mit unserem Verhalten?….mit unserem Umgang mit den Ressourcen dieser Erde?
Würde uns nicht auch ohne Corona der unbeschwerte Gesang im Hals stecken bleiben?

Es ist eine Kunst, trotz allem zu sehen, dass die Welt schön ist, bei allen Bedrohtheiten und Spannungen!
gesehen hat, bei uns immer seltener werden.
Das Sterben der Artenvielfalt und der Klimawandel werden in den nächsten Jahrzehnten mit Herausforderungen unsere Welt verändern, dagegen wird uns die Zeit des Corona-Virus wie ein Spaziergang vorkommen!!
Ich finde es erstaunlich, wie oft durch Corona von der Verletzlichkeit des Lebens die Rede ist. Nicht im Wort zum Sonntag, sondern in den ganz normalen Nachrichten!
Und dass unsere selbstverständlichen Sicherheiten erschüttert worden sind.

Selbstverständliche Sicherheiten hatte das Leben für mich noch nie! Leben ist immer lebensgefährlich und wie man es ohne Gottvertrauen bewältigen kann ist mir ein Rätsel! Allerdings waren bis jetzt die erschütternden Schicksalsschläge genauso individualisiert wie unsere Gesellschaft immer individualisierter geworden ist:
– Junge Eltern, die ein Kind verloren haben, fühlten sich mit ihrem Schmerz sehr allein – aber sie haben erlebt, wie verletzlich das Leben ist!!
– Menschen, deren geliebter Partner/Partnerin vor der Zeit verstarb, fühlten sich mit ihrer Trauer so allein und waren unter dem Eindruck, kein anderer Mensch kann nachfühlen, wie sich Trauer anfühlt!!
– Die Erfahrung, wie verletzlich das Leben sein kann, erleben Eltern, deren 18 Jähriger gleich nach Erreichen des Führerscheins sich und die Geschwindigkeit seines Autos überschätzt und sich zu Tode fährt.
– Die Verletzlichkeit des Lebens fühlt sich oft ungerecht an: ich erinnere mich an eine alte Dame in Barsbüttel, sie ging schon auf die 90 zu, und musste erleben, dass ihre 31jährige Enkeltochter bei der Geburt ihres Kindes starb! „Warum kann ich nicht gehen?“ fragte sie „ich hab mein Leben gehabt, aber doch nicht die Emmily“!
Egal wer die Verletzlichkeit des Lebens wie auch immer hat zu spüren bekommen: es schien immer eine sehr einsame Erfahrung zu sein! Und die Mehrheit der anderen Menschen wiegte sich in Sicherheit: schlimme Dinge passieren immer nur den anderen!!
Das ist mit Corona vorbei: dieses Virus trifft uns alle. Die Maßnahmen zu Schutz und Eindämmung treffen uns alle. Mit der Einsamkeit von Verletzlichkeitserfahrungen ist es vorbei! Und plötzlich ist diese existentielle Dimension unseres Lebens, die immer schon da war, gesellschaft-liches Thema und schafft den Sprung in die Nachrichten!

Auch Paul Gerhard hat erfahren, wie verletzlich das Leben ist:
– als er 11 Jahre alt ist bricht der 30jährige Krieg aus und
bestimmt mit seinem Schrecken nun sein weiteres Leben. – mit 12 und 14 Jahren verliert er die Eltern;
– erst mit 44 bekommt er eine Anstellung als Pastor,
– vorher verdient er seinen Lebensunterhalt mehr recht als schlecht als Hauslehrer
– 12 Jahre musste er warten, bis er seine geliebte Anna heiraten konnte
– von den 5 Kindern überlebte ihn nur eines
– und auch Anna starb früh: nach nur 13 Jahren Ehe

Lauter „Ach’s“ und „oh’s“ stimmen seufzend in die Melodie ein und bezeugen die dunklen Lebenserfahrungen. Sie auszublenden würde das Leben unvollständig machen und das Schöne wäre dann nur Lüge.
Verhalten und poetisch kommen Schwere und Trauer zur Sprache:
„Das Erdreich decket seinen Staub mit einem grünen Kleide“ ……….
das ist schon eine leise Erinnerung daran, dass wir auch Staub sind. Dass Leben immer Geschenk ist: kostbares Geschenk auf Zeit.

3. Orgelvariation

Bilder der Natur sind für Paul Gerhard auch Bilder des Lebens und Bilder von Gott:
Nicht nur Narzissen und Tulpen wachsen und entfalten sich, sondern auch der Mensch entfaltet sich für und vor Gott. Er wächst im Glauben und reift durch seine Lebens-erfahrungen.
Und so wie jede Pflanze welkt und eingeht und die Natur den Jahreszeiten unterworfen ist, so welkt der Mensch eines Tages dahin und stirbt. „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras: er blüht wie eine Blume auf dem Felde und wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da.“ – heißt es im 103. Psalm

Die Gartensprache Paul Gerhards schillert irdisch und zugleich auf die Ewigkeit bezogen: hier und dort sollen wir an Leib und Seele grünen, wollen wir werden ein guter Baum und Wurzel treiben.
Das gilt für dieses Leben genauso wie für Gottes Ewigkeit.

Gestandene aufrechte Menschen braucht diese Welt jetzt und hier schon.
Wir sprechen oft davon wie wichtig es ist, dass Politiker, Berühmtheiten, Stars nicht den Kontakt zur Lebenswirklichkeit normaler Menschen verlieren, dass sie nicht abheben, sondern „mit beiden Beinen im Leben stehen“ (als Zeichen ihrer Integrität).
Bei Paul Gerhard geht es eher darum, mit einem Bein hier im Leben und mit dem anderen im Paradies zu stehen, bei Gott zu wurzeln!
Dafür wird sein Lied zu einem Gebet, zu einem Bittruf: „Hilf mir und segne meinen Geist“!……..„Gib dass der Sommer deiner Gnad/ in meiner Seele früh und spat/ viel Glaubensfrüchte ziehe“
…………“Mach in mir deinem Geist Raum, dass ich dir wird ein guter Baum“!
Ziel des Gebetes ist das Innehalten und Bilanzziehen über das eigene wachsen im Glauben.
Für viele waren und sind die Corona-Wochen eine Zeit der Besinnung:
– wo wir stehen in unserem Leben: an Gottes Wasserbächen gepflanzt?……
– oder haltlos dahintreibend zwischen Anforderungen von außen und Alltagsroutine?
– Was ist wirklich wichtig im Leben, was bringt uns zum Blühen, zum Wachsen und Gedeihen??

Paul Gerhard will nicht nur zum Mitsingen einladen, sondern auch zum Nachdenken.
Und wie nie zu vor hatten wir in den letzten Wochen und Monaten Zeit zum Nachdenken! Und wir werden auch noch all unsere guten Gedanken und unsere Kreativität brauchen um die Coronafolgen halbwegs zu bewältigen und vielleicht wirklich mal was zu lernen und gesellschaftlich zu verändern!!
Auch kirchlich was zu verändern…….uns zu öffnen für den modernen Menschen und seine Fragen und Bedürfnisse!

In meinen 39 ½ Jahren Pfarramt habe ich immer wieder ein Bekenntnis in den verschiedenen Gemeinden gehört und auch drunter gelitten: „ das war schon immer so“ und „Das haben wir noch nie so gemacht“ .
Kaum kommt das Corona-Virus daher und alles wird anders:
Plötzlich geht, was vorher nicht möglich schien: digitale Formen, streamen und Podcasts, mehr Seelsorge am Telefon, andere Gottesdienstformen, Glaubensformen ohne Kirchengebäude…..
Über manch Initiativen der jungen Kolleginnen kann ich mich als Rentnerin nur freuen!
Und auch wenn Corona uns viel zu klagen aufgibt: Knospen einer neuen Zukunftshoffnung blühen genauso auf!

Das ist wie bei Paul Gerhard: er hält faszinierend die Balance zwischen Klage und Lob….Dunkelheit und Licht….dem Garten „hier und dorte“, den harten eigenen Lebenserfahrungen und einem Gottvertrauen, das die Hoffnung nie aufgibt!
Dass wir in dieses Gotteslob bald wieder aus vollen Kehlen ohne Rücksicht auf die dabei versprühten Aerosole einstimmen können mit Paul Gerhards zu Herzen gehenden Worten, das wünsch ich uns allen sehr. Amen

4. Orgelvariation

gehalten am 19.07.2020 in der Christuskirche Wandsbek

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