Samstag, 9.30 Uhr, 1. Trauerfrühstück in einer Reihe von fünfen. Der Tisch ist gedeckt, der Kaffee duftet, die frischen Brötchen auch, nun müssen nur noch Leute kommen. Entweder weil sie einfach hereinschneien, neugierig sind durch den Aufsteller mit Werbeplakat auf dem Friedhof oder weil sie gut informiert sind über meine thematischen Trauerangebote auf dem Schiffbeker Friedhof. Heute startet eine neue Abfolge von 5 Trauer-Frühstücken mit aufeinander abgestimmten Themen. Es geht um den Beginn eines jeden Trauerprozesses unter der Überschrift: „Du bist von mir gegangen: Sterben – Tod – Bestattung – die Tage danach“. Ich bin gespannt: es ist ein kalter, regnerischer, ungemütlicher Morgen – ob sich überhaupt Jemand auf den Friedhof traut?
Da geht die Tür auf und ein junger Mann kommt rein: „Oh, wie gemütlich!“ Er sieht den für 6 Personen gedeckten Tisch, der bei Bedarf aber auch noch Platz für mehr Menschen bieten würde. „Sind Sie eingestellt auf noch 4 Leute mehr? Ich wollte nur mal gucken, was hier vorbereitet ist.“ „Ich bin auf alles vorbereitet“ antworte ich und „kommen Sie gern alle rein zum Frühstücken.“ Kurz darauf geht die Tür wieder auf und tatsächlich kommen 5 Leute einer offensichtlich russlanddeutschen Familie herein. Ein bisschen schüchtern und irritiert stehen sie herum, trauen sich weder die Jacken auszuziehen, noch sich hinzustzen. Doch genau dazu fordere ich sie auf.
„Für wen ist denn dieses nette Frühstück, das ist doch nicht für uns?“ „Doch“ sage ich, „das ist für genau die, die herein kommen. Wer immer das ist.“ Allmählich wird die Familie zutraulicher. „Wir sind in einer Stunde mit der ganzen Familie hier verabredet“ erklärt ein junger Mann, „wir sind sehr rechtzeitig losgefahren, man weiß ja nie mit dem Verkehr und so, aber nun sind wir ’ne Stunde zu früh“. „Na“, sage ich, „dann können Sie doch jetzt einen Kaffee trinken, frühstücken, sich aufwärmen und die Stunde so überbrücken.“ Und eine junge Frau gibt zu „wir haben das Schild -auch mit dem Trauercafè- schon oft gesehen auf dem Friedhof, hätten uns aber nie getraut, reinzukommen. So etwas kennen wir ja nicht.“ Als alle sitzen, einen Kaffee oder Tee und ein Brötchen vor sich haben, geht das Gespräch dann richtig los: „unsere Mutter hat einjährigen Todestag. Das ist ein besonderer Anlass bei uns. Da kommt die ganze Familie zusammen. Trifft sich am Grab, betet und geht dann essen.“ “ Bei uns (auf meine Nachfrage erfahre ich, das meint russisch-orthodox, obwohl dei Familie katholisch ist) gibts 3 wichtige Totengedenktage, am 9. Tag nach dem Tod, am 40. Tag und dann zum Einjährigen!“
„Godziny heißt der“ erfahre ich und die Familie erzählt: vom viel zu frühen Tod der Mutter mit 67, von ihrem schweren Leiden, von unguten Erfahrungen im Krankenhaus, was für eine starke, clevere Frau die Mutter war, aber auch von ihrer Frömmigkeit erzählen sie und dass sie zum Schluss nicht mehr konnte und bereit war, diese Welt zu verlassen. Innerlich muss ich schmunzeln: so ungewöhnlich der Anfang des Frühstücks war, so sehr sind wir jetzt genau mittendrin in dem Thema, das nach Plan dran ist. Die Tür geht auf und weitere 4 Personen der Großfamilie schauen herein. Sie haben das Auto der Anderen draußen erkannt und sich gewundert: wo die wohl sind?! Alle rücken auf den Bänken zusammen und weiter gehts im Gespräch. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus über diese Lehrstunde in volkstümlicher russischer Theologie: angeblich ist im ersten Todesjahr Gottes Urteil über einen Menschen noch nicht endgültig vollzogen. Gut und böse werden von ihm gegeneinander abgewogen. Und das liebevolle Gebet der Familie kann mit dafür sorgen, dass die Waagschale „gut“ sich füllt. Denn wenn ein Mensch viele liebevolle Fürbitter hat, die ihn nicht vergessen, dann muss er ein guter Mensch gewesen sein. Und so kommt heute die ganze große Familie am Grab der Mutter/Schwester/Tante zusammen, um noch mal barmherzig für sie zu beten. Und jede/r trägt mit eigenen kleinen Erinnerungsgeschichten zu diesem Gebet bei. Danach erst können ihre Lieben sie loslassen in dem Vertrauen: Gott nimmt sich ihrer an, errettet sie und sie darf in Gottes Schoß ruhen bis zum jüngsten Tag. Mir als Protestantin ist manches fremd an dieser bilderreichen Vorstellung, aber fasziniert bin ich, wie die ganze Famile diese Tradition lebt!