Eine kleine Geschichte zum Thema Verwandlung

Mit den Wildgänsen ziehen
Es war ein alter Bauer, der hieß Hein. Er lag in seinem Bett und spitzte die Ohren.
Das Fenster seiner kleinen Stube war weit offen, und es waren helle, harte Schreie
zu vernehmen.
„Die Wildgänse ziehen wieder fort“, murmelte der alte Hein zu sich selbst, „und auch
diesmal rufen sie mich wieder, mit ihnen zu ziehen.“
In jedem Herbst war es dasselbe gewesen: Wenn die Wildgänse hoch im Himmel
über den Hof hinwegzogen und ihre heiseren Rufe ausstießen, hatte er immer
gemeint, diese Rufe gälten ihm. Wie oft hatte er davon geträumt, einmal mit den
Gänsen ziehen zu können und ferne Länder zu sehen, in denen es immer hell und
warm war und in denen die Bäume das ganze Jahr über Frucht trugen; wenn man
Hunger hatte brauchte man nur die Hand danach ausstrecken und sie sich
abzupflücken.
Nie hatte es geklappt mit dem Reisen. Stets gab es Arbeit auf dem Hof, die
unbedingt noch erledigt werden musste. Aber die Wildgänse hatten in jedem Jahr
aufs Neue gerufen, und so war die Sehnsucht zu reisen in Hein jedes Jahr aufs Neue
geweckt worden.
Nun war er alt und konnte das Bett nicht mehr verlassen, und es schien ihm
manchmal so, als ob es mit dem Leben ganz zu Ende gehen wollte. Das war nicht so
schlimm. Er hatte in den Jahren, da er noch kräftig war, fleißig gearbeitet und
brauchte sich keine Vorwürfe zu machen. Nur dass sein einziger Traum unerfüllt
bleiben sollte, machte ihm zu schaffen: dass er die Reise mit den Wildgänsen nie
angetreten hatte.
Wieder klang der scharfe Ruf durchs offenen Fenster zu ihm herein. „Ich kann doch
nicht mit euch fliegen“, sagte der alte Hein etwas ungeduldig, „ich habe nicht solche
Schwingen wie ihr“.
Aber als er das sagte, hatte er auf einmal den Eindruck, dass er es mit der Wahrheit
nicht so genau nahm, wie er es sonst im Leben gehalten hatte. Gewiss hatte er
Flügel, und was für welche! Sie reichten ihm von den Schultern bis an die Füße und
ragten sogar noch weit über seinen Kopf hinaus. Gänseflügel waren das allerdings
nicht, sondern wunderbare Schwingen, wie sie die Engel auf den Bildern in der
Kirche hatten. Woraus waren sie nur gemacht? Sie schienen aus nichts als lauter
Licht zu bestehen.
„Ich habe also doch Flügel“, brummte da der alte Hein, „ein Leben lang hatte ich es
vermutet. Seltsam, dass ich mich nie davon überzeugt habe.“
Dann richtete er sich auf; er meinte, es ginge ihm auf einmal viel besser als all die
Wochen zuvor. Aber was war das? Der alte Leib wollte sich nicht mit ihm erheben.
Der blieb einfach im Bett liegen und muckste sich nicht.
„Egal“, murmelte Hein, der sich so jung fühlte wie seit seiner Kindheit nicht mehr,
„wenn ich jetzt noch warte, verpasse ich die Zeit zum Fliegen auch diesmal wieder.“
Er versuchte, ob die Lichtschwingen ihm gehorchten. Sie taten es. Da spannte er sie
weit aus und flog durch das offene Fenster den Wildgänsen nach.
Unter sich sah er die abgeernteten Äcker seines Hofes liegen. Ade, ade! Höher und
immer höher hinauf flog Hein, bis die Welt ganz anders aussah, als er sie aus
seinem Leben kannte. Da war viel Licht und wogendes Farbenspiel, und da war
Musik, und es waren andere Wesen um ihn mit Lichtflügeln, wie er selbst sie hatte.
Zu ihnen gesellte sich Hein und war glücklich.
Der Traum seines Lebens hatte sich erfüllt.

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